Tschingis Aitmatow

Aitmatow wurde an einem kalten Dezembertag des Jahres 1928 im Dorf Scheker im Talas-Tal in Kirgisistan geboren. Sein Vater, Törekul Aitmatow, war einer der führenden Intellektuellen des kirgisischen Volkes im jungen Sowjetstaat. Doch das Schicksal der Familie nahm eine tragische Wendung: Als Törekul während Stalins „Großer Säuberung“ als „Volksfeind“ gebrandmarkt und 1938 hingerichtet wurde, wurde die Familie auseinandergerissen. Als Tschingis zehn Jahre alt war, war sein Vater bereits tot.
Foto: Sebahattin Çelebi

SEBAHATTIN ÇELEBİ FRANKFURT

„Wenn ein Mensch einen anderen so behandelt, als wäre dieser er selbst, wird die Menschheit diesem Menschen mit größter Verachtung und Ungerechtigkeit begegnen. Die Folge ist eine Katastrophe. Zuerst musst du du selbst sein, dann lass auch den anderen er selbst sein – lass ihn so sein, wie er ist.“

Diese Botschaft wurde aus den Zeilen von „Der Tag währt länger als ein Jahrhundert“ von der kirgisischen Steppe aus an die gesamte Menschheit gesandt. Jedes Wort des weltberühmten kirgisischen Schriftstellers Tschingis Aitmatow war eine Brücke vom Lokalen zur universellen Wahrheit. Seine Worte waren wie Schneeflocken vom Tienschan-Gebirge: schön, zart, einzigartig und fügten sich zu einer beeindruckenden Landschaft zusammen.

Wurzeln in der Steppe

Aitmatow wurde an einem kalten Dezembertag des Jahres 1928 im Dorf Scheker im Talas-Tal in Kirgisistan geboren. Sein Vater, Törekul Aitmatow, war einer der führenden Intellektuellen des kirgisischen Volkes im jungen Sowjetstaat. Doch das Schicksal der Familie nahm eine tragische Wendung: Als Törekul während Stalins „Großer Säuberung“ als „Volksfeind“ gebrandmarkt und 1938 hingerichtet wurde, wurde die Familie auseinandergerissen. Als Tschingis zehn Jahre alt war, war sein Vater bereits tot.

Der kleine Tschingis wuchs unter den Fittichen seiner Mutter Nagima und seiner Großmutter Ayıkman auf. In den harten Jahren des Zweiten Weltkriegs musste er im Alter von nur vierzehn Jahren als Steuereintreiber im Dorf arbeiten. Er war ein Kind, das im rauen Klima der Steppe früh erwachsen wurde. Tagsüber arbeitete er, nachts las er literarische Werke; besonders zugetan war er den russischen Klassikern, allen voran Tolstoi und Dostojewski.

Über seine Mutter sagte Tschingis: „Sie war es, die mir half, ein Mensch zu werden und eine Persönlichkeit zu entwickeln.“ Die kirgisischen Epen und Volkserzählungen, die er von seiner Großmutter hörte, nährten die mythologischen und folkloristischen Adern seiner späteren Werke. Das Manas-Epos und die Legenden der Steppe – das waren die Samen, die in seinem Geist zu keimen begannen.

Vom Dorf zum Kreml: Die Geburt eines Schriftstellers

Nach seinem Abschluss an der Fachschule für Tierzucht studierte Tschingis am Kirgisischen Landwirtschaftsinstitut. Doch tief in seinem Herzen wusste er, dass seine wahre Berufung nicht bei den Tieren, sondern in den Worten lag. Sein internationaler Durchbruch gelang ihm 1958 mit der Novelle „Dschamilja“, die der französische Dichter Louis Aragon als „die schönste Liebesgeschichte der Welt“ bezeichnete. Anschließend wurde er am renommierten Gorki-Literaturinstitut in Moskau angenommen, was seine literarische Laufbahn entscheidend prägte.

Kolchos-Geschichten und universelle Themen

In den 1960er Jahren stieg Aitmatow zu einem Star der sowjetischen Literatur auf. Dieser Erfolg setzte sich mit Werken wie „Abschied von Gülsary“ und „Der erste Lehrer“ fort. In seinen Werken stellte er das Leben in einem Kolchos (landwirtschaftlicher Großbetrieb) dar und thematisierte dabei die Katastrophen des Krieges sowie die Beziehung zwischen Mensch und Natur. Aitmatows Erzählungen waren jedoch weit mehr als bloße Sowjetpropaganda.

In „Das weiße Schiff“ erzählt er die Geschichte eines kleinen Jungen, der davon träumt, sich in einen Fisch zu verwandeln, um zu einem weißen Schiff auf dem Issyk-Kul-See zu schwimmen. Die Geschichte wirkt unschuldig, doch sie deckt subtil die moralische Verkommenheit der Gesellschaft und die Zerstörung ihrer Mythen auf. In „Mutter Erde“ schildert er den unermesslichen Schmerz der Bäuerin Tolgonai, die im Krieg ihren Mann und ihre drei Söhne verliert. Indem er sie einen Dialog mit der Erde führen lässt, erinnert er den Leser daran, dass Natur und Mensch eine untrennbare Einheit bilden – eine uralte Weisheit, die der moderne Mensch vergessen zu haben scheint.

Ein Weiser im Zeitalter der Mankurts

Aitmatows Werke der Reifezeit stellen einen Höhepunkt an philosophischer Tiefe und mythologischem Reichtum dar. Sein wohl bekanntestes Werk, „Der Tag währt länger als ein Jahrhundert“ (1980), nutzt die Legende des Mankurts als Metapher für Menschen, die ihr Gedächtnis und ihre Identität verloren haben. Gefangenen wird frische Kamelhaut über den geschorenen Kopf gespannt; während die Haut in der Sonne trocknet und schrumpft, wird ihr Gedächtnis ausgelöscht, bis sie sogar ihre eigene Mutter vergessen. Diese eindringliche Metapher ist eine zeitlose Kritik an totalitären Systemen, die Menschen von ihrer Vergangenheit, ihrer Kultur und letztlich von ihrer Menschlichkeit entfremden.

In späteren Werken wie „Die Richtstatt“ (1986) und „Das Kassandra-Mal“ (1994) rückten ökologische Themen in den Vordergrund. Hier kritisierte Aitmatow, wie die Menschheit den Bezug zur Natur und zueinander verliert.

Eine besondere Stimme in der kommunistischen Welt

Tschingis Aitmatow nahm eine einzigartige Position in der sowjetischen Literatur ein. Während er in seinen Werken das System subtil kritisierte, besaß er gleichzeitig den Status eines offiziell anerkannten und gefeierten Sowjetschriftstellers. 

Er reduzierte seine Literatur niemals auf ideologische Slogans. Stattdessen vertrat er einen universellen Humanismus, der verschiedene Kulturen miteinander verband. Indem er sowohl auf Russisch als auch auf Kirgisisch schrieb und das Beste beider Sprachen vereinte, wurde er zu einer Schlüsselfigur der „sowjetisch-eurasischen“ Schriftsteller.

In der postsowjetischen Zeit setzte er seine Arbeit als Kulturbotschafter für Kirgisistan und als internationaler Intellektueller fort. „Auch ich hatte während meiner Botschaftertätigkeit die Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Der große Meister schätzte meine damals veröffentlichte Zeitschrift „Platform“ sehr und überließ mir mit den Worten „In einer so schönen Zeitschrift möchte ich auch vertreten sein“ einen seiner Artikel als Geschenk.“

Eine Nomadenseele zwischen den Welten

Mit seinem Tod im Jahr 2008 hat Aitmatows Erbe nicht nur nationale Grenzen überschritten, sondern auch ideologische Mauern gesprengt und die Zeit überdauert. Seine Werke glichen die Platanen in seinen heimatlichen Tälern – ihre Wurzeln nährten sich aus der kirgisischen Erde, doch ihre Äste reichten hinaus zur gesamten Menschheit. Er sagte oft: „Literatur sollte einen Menschen besser machen.“ Für ihn war literarisches Schaffen nicht nur ein ästhetisches Unterfangen, sondern auch eine moralische Verpflichtung.

Als starke, weise Stimme war er von den Ausläufern des Tienschan-Gebirges gekommen und hatte die Ozeane überquert.

Tschingis Aitmatow starb am 10. Juni 2008 im Alter von 79 Jahren in Nürnberg. Die Todesnachricht löste weltweit große Trauer aus. Seine sterblichen Überreste wurden in seine Heimat Kirgisistan überführt und im Ata-Beyit-Komplex nahe der Hauptstadt Bischkek beigesetzt – an jenem Ort, an dem auch sein Vater und andere Opfer der stalinistischen Säuberungen begraben liegen. Nach 70 Jahren war der Sohn wieder mit dem Vater vereint.

Aitmatow lebt in den Werken weiter, die er hinterlassen hat, als unvergänglicher Teil der Literatur der Turkvölker und der Weltliteratur.

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