Israels nukleares Geheimnis 

Israels nukleares Geheimnis und die Doktrin der kalkulierten Ambiguität

Enis Behiç Malmö

Unter der sengenden Sonne der Negev-Wüste, unweit der Stadt Dimona, erhebt sich ein Bauwerk wie ein glänzendes Monument moderner Architektur. Offiziell als Textilfabrik oder Forschungszentrum deklariert, birgt diese glänzende Kuppel das am besten gehütete und brisanteste Geheimnis des Nahen Ostens. Dies ist nicht nur ein Reaktor – es ist die Überlebensgarantie einer Nation, eine Doktrin der Abschreckung und die physische Manifestation einer Macht, über die niemals offen gesprochen wird. Der Name dieser Anlage lautet Nuklearforschungszentrum Negev, doch die ganze Welt kennt sie unter einem einzigen Wort: Dimona. Und ihr Schweigen ist das lauteste Flüstern, das seit Jahrzehnten das Machtgleichgewicht im Nahen Osten prägt.

Die Geschichte dieses Flüsterns ist auf der Asche der Verzweiflung erbaut.

Der Schwur Nie wieder

Um Israels nukleare Ambitionen zu verstehen, muss man in die Gründungsphilosophie des Staates und das traumatische Erbe des Holocaust eintauchen. Nach dem systematischen Völkermord an Millionen von Juden machte der neu gegründete Staat das Prinzip Nie wieder (Never Again) zum Fundament seiner nationalen Sicherheitsdoktrin. Für Israels Gründungspremierminister David Ben-Gurion konnten konventionelle Armeen, so stark sie auch sein mochten, niemals die ultimative Überlebensgarantie für eine Nation darstellen, die von vielfach größeren und feindseligen arabischen Staaten umgeben war.

Unmittelbar nach Israels Gründung 1948 erteilte Ben-Gurion den Wissenschaftlern die Anweisung, die Wissenschaft zu entwickeln, die uns alles bringen kann. Er war überzeugt, dass das Schicksal des jüdischen Volkes niemals wieder der Gnade anderer überlassen werden dürfe. Falls Feinde an den Punkt gelangen sollten, Israel durch einen konventionellen Krieg zu vernichten, musste das Land einen ultimativen Trumpf in der Hand haben, der die gesamte strategische Gleichung verändern würde. Dieser Trumpf war die Atombombe.

Die Person, die diese Vision zum Leben erweckte, war Ben-Gurions junger und ehrgeiziger Vertrauter Schimon Peres. In den 1950er Jahren reiste Peres durch Europa und suchte im Geheimen nach Partnern für Israels kühnen Traum. Er sollte diesen Partner in Frankreich finden, einer der aufstrebenden Nuklearmächte jener Zeit.

 Der geheime französische Kuss

Die Suez-Krise von 1956 brachte eine unerwartete Allianz im Nahen Osten hervor. Frankreich und Israel, vereint durch ihre gemeinsame Feindschaft gegenüber dem ägyptischen Führer Gamal Abdel Nasser, unterzeichneten eine der geheimsten und folgenreichsten strategischen Kooperationen der Geschichte. Während Frankreich sein eigenes Nuklearprogramm vorantrieb, versprach es Israel den Bau eines großen Kernreaktors mitten in der Negev-Wüste und – noch wichtiger – einer Anlage zur Wiederaufbereitung von Kernbrennstoff, um Plutonium zu produzieren, den Grundstoff für den Bombenbau.

Das Abkommen wurde unter absoluter Geheimhaltung abgewickelt. Die Baustelle in Dimona wurde mit Tarnbezeichnungen wie Oron-Phosphatanlage verschleiert. Französische Ingenieure reisten mit gefälschten Pässen ins Land ein, und die gesamte Kommunikation lief über verschlüsselte Kanäle. Als amerikanische Aufklärungsflugzeuge ungewöhnliche Aktivitäten in der Region entdeckten, beharrten sowohl Israel als auch Frankreich darauf, dass es sich bei der Anlage um ein rein friedliches Forschungszentrum handele. Doch was im Herzen von Dimona errichtet wurde, war weit mehr als das: Es war die Geburtsstätte von Israels nuklearem Arsenal.

 Amimut – Die Doktrin der Ungewissheit

Seit Ende der 1960er Jahre, als Israel vermutlich über Atomwaffen verfügte, verfolgt das Land eine bis heute anhaltende, einzigartige Strategie: Amimut (עֲמִימוּת), die bewusste Ambiguität oder Opazität.

Diese Doktrin war einfach, aber genial: Israel würde niemals zugeben, Nuklearwaffen zu besitzen, aber es würde auch niemals bestreiten, sie zu haben. Diese Strategie hatte vielschichtige Vorteile:

Maximale Abschreckung: Feindliche Staaten mussten vom schlimmsten Fall ausgehen und so handeln, als ob Israel Nuklearwaffen besäße. Dies machte einen totalen Angriff, der Israels Existenz bedrohen könnte, nahezu undenkbar.

Verhinderung eines Wettrüstens: Indem Israel seine Nuklearmacht nicht offiziell verkündete, vermied es, den benachbarten arabischen Ländern einen offiziellen Grund für ein sofortiges nukleares Wettrüsten zu liefern.

Vermeidung internationalen Drucks: Diese Ambiguität ermöglichte es Israel, dem Druck seines wichtigsten Verbündeten, der USA, im Hinblick auf den Atomwaffensperrvertrag (NPT) zu entgehen. Israel hat den NPT nie unterzeichnet.

Diese Politik wurde zu einem Balanceakt in Israels Außenbeziehungen. Die Existenz des nuklearen Arsenals war der sprichwörtliche Elefant im Raum – jeder wusste davon, aber niemand sprach laut darüber.

Der Mann, der den Schleier lüftete

Dieser jahrzehntelang perfekt funktionierende Schleier wurde 1986 von einem Insider zerrissen. Mordechai Vanunu, ein Techniker auf mittlerer Ebene in Dimona, durchlebte eine Gewissenskrise, fotografierte heimlich die Anlage und verließ das Land. Sein Ziel war es, der Welt die Wahrheit hinter Israels friedlichem Programm zu enthüllen.

Vanunu wandte sich in London an die Sunday Times. Die von ihm veröffentlichten Fotografien und technischen Details waren schockierend. Experten schlossen aus Vanunus Beweisen, dass Israel nicht nur über ein paar einfache Bomben verfügte, sondern über eines der fortschrittlichsten Nuklearprogramme der Welt mit einer Kapazität zur Produktion von 100 bis 200 thermonuklearen Waffen.

Der Preis für diese Enthüllung war jedoch hoch. Der Mossad lockte Vanunu in Rom durch eine Agentin in eine Falle (Honey Trap), entführte ihn und brachte ihn heimlich nach Israel zurück. Nach einem geheimen Verfahren wegen Landesverrats und Spionage wurde er zu 18 Jahren Haft verurteilt, von denen er elf Jahre in völliger Isolation verbrachte. Vanunu ging als der Mann in die Geschichte ein, der das bestgehütete Geheimnis Israels preisgab, doch an der offiziellen Amimut-Politik änderte sich nichts.

Die Samson-Option und die moderne Macht

Heute schätzen Militäranalysten, dass Israel zwischen 90 und 400 nukleare Sprengköpfe besitzt. Dieses Arsenal ist nicht nur durch die Anzahl der Waffen furchteinflößend, sondern auch durch die Fähigkeit, sie ins Ziel zu bringen. Israel soll eine nukleare Triade aufgebaut haben, die seine Vergeltungskapazität garantiert:

Aus der Luft: Langstreckenkampfflugzeuge wie F-15, F-16 und F-35.

Vom Land: Ballistische Raketen der Jericho-Serie mit Reichweiten von Tausenden von Kilometern.

Vom Meer: Hochmoderne U-Boote der Dolphin-Klasse aus deutscher Produktion, die vermutlich nuklearfähige Marschflugkörper abfeuern können. Diese U-Boote gewährleisten eine Zweitschlag-Kapazität von jedem Punkt der Welt aus, selbst wenn israelisches Territorium zerstört würde, und machen die nukleare Abschreckung damit absolut.

Diese überwältigende Macht ist mit einer inoffiziellen und beunruhigenden Doktrin verbunden, die als Samson-Option bekannt ist. Benannt nach dem biblischen Helden Samson, der den Tempel über sich und seinen Feinden zum Einsturz brachte, besagt diese Theorie: Falls der Staat Israel mit seiner Vernichtung konfrontiert würde, würde er als letzten Akt sein gesamtes nukleares Arsenal gegen seine Feinde entfesseln und den gesamten Nahen Osten mit sich in den Abgrund reißen. Das ist keine bloße Erpressung, sondern die ultimative und verzweifelte Antwort auf eine existenzielle Bedrohung.

Fazit: Das Gewicht des Schweigens

Heute bewahrt die Kuppel von Dimona noch immer ihr Schweigen. Israels Nuklearmacht ist ein unsichtbarer, aber spürbarer Teil jeder strategischen Bewegung im Nahen Osten, jeder diplomatischen Krise und besonders jeder Diskussion über Irans Nuklearprogramm. Ist sie ein stabilisierender Faktor oder eine Zeitbombe, die die Region ständig am Rande einer Katastrophe hält? Die Antwort auf diese Frage bleibt, wie Dimonas Geheimnis selbst, im Ungewissen.

Gewiss ist nur eines: Der Schwur eines Volkes, Nie wieder, hat unter dem Sand der Negev-Wüste eines der gefährlichsten und wirksamsten Geheimnisse der Welt geschaffen. Und das Gewicht dieses Schweigens bestimmt weiterhin das Schicksal der gesamten Region.

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