Erlebt Europa, mit Deutschland im Zentrum, einen dramatischen „Verfall fundamentaler demokratischer Werte wie der Meinungs- und Pressefreiheit,“ insbesondere seit Beginn des Ukraine-Krieges? Diese Frage gewinnt im heutigen Europa zunehmend an Brisanz. Die türkische Journalistin und Gründungspräsidentin des Bundes türkischer Journalisten in Europa e.V. (ATGB), Işın Ertürk, teilt anlässlich eines wichtigen Treffens in Berlin, das sich mit dem „wachsenden Druck auf kritische Journalisten“ befasst, ihre Analysen und tiefen Sorgen.
Das Treffen oppositioneller Medien in Berlin: Ein Manifest gegen ein Wahrheitsregime
Laut Ertürk fungiert das Treffen am 3. Juli in Berlin mit dem Titel „Pressefreiheit gegen das ‚Wahrheitsregime‘ der EU“ als „Lackmustest für die Entwicklungen in Europa.“ Die Veranstaltung zielt darauf ab, den Druck und die Zensur aufzudecken, die die Europäische Union gegen Journalisten und Medien ausübt, die von der „vorherrschenden Erzählung“ zu Themen wie der Ukraine und Gaza abweichen.
Unter Bezugnahme auf das Konzept des „Wahrheitsregimes“ des französischen Philosophen Michel Foucault betont Ertürk, wie „Macht Wissen formt und kontrolliert.“ Diese „neue Druckarchitektur der EU“ manifestiert sich in konkreten Maßnahmen: die Schließung von Bankkonten oppositioneller Publikationen in Deutschland, die „algorithmische Unsichtbarmachung kritischer Inhalte“ auf Plattformen wie YouTube und Sanktionen wie „Reiseverbote für Journalisten.“ Journalisten wie Hüseyin Doğru von Red Media sehen sich „sozialer Ausgrenzung und finanziellem Druck“ ausgesetzt, nur weil sie einen anderen Diskurs zum Ukraine-Krieg oder zum „Völkermord in Gaza“ vertreten.
„Dass die EU mit ihrem 13. Sanktionspaket gegen Russland erstmals ihre eigenen Bürger – Journalisten – ins Visier nahm,“ sieht Ertürk als „Beweis für den vollständigen Zusammenbruch des Diskurses über die Meinungsfreiheit.“
Das Treffen erinnert daran, wie die Fälle von Julian Assange und Edward Snowden in Europa „systematisch dem Vergessen anheimgegeben wurden“, und versucht, eine „Gewissensfront gegen die Kriminalisierung des kritischen Journalismus zu bilden.“ Ertürk stellt fest: „Pressefreiheit ist nicht nur das Recht der Journalisten, sondern das Recht der Öffentlichkeit auf Zugang zur Wahrheit, und dieses Recht wird uns genommen.“
Systematischer Druck: Etikettierung und algorithmische Zensur
Die Wahrnehmung, dass in der europäischen Demokratie die „Schrauben angezogen werden“, sei keine Täuschung, so Ertürk. Sie untermauert dies mit konkreten Fakten: Deutschlands „Absturz im Ranking der Pressefreiheit“ von Reporter ohne Grenzen auf den 21. Platz ist ein „klares Indiz.“ Gründe dafür sind die „Unterdrückung von Protestberichterstattung“, das „Anprangern von regierungsunabhängigen Journalisten“ und die „systematische Überwachung in den sozialen Medien.“
Die „sogenannte Strategie zur Bekämpfung von Desinformation der EU“ hat sich in der Praxis zu einem „Instrument der Unterdrückung“ entwickelt, um „abweichende Meinungen zu unterdrücken.“
„Wer friedliche Lösungen für den Ukraine-Krieg vorschlug, wurde als Putin-nah abgestempelt.“
„Wer während der Pandemie abweichende Meinungen vertrat, wurde als Corona-Leugner gebrandmarkt.“
„Wer die Ereignisse in Gaza als Völkermord bezeichnete, wurde mit dem Vorwurf des Antisemitismus konfrontiert.“
Dieser „Mechanismus der Etikettierung“ zeigt, dass die Meinungsfreiheit zwar formell existiert, aber in der Praxis bestraft wird. Das „Verbot von Kanälen wie RT und Sputnik“ oder die „Verwarnungen von YouTube gegen die NachDenkSeiten“ wegen ihrer Kritik an der NATO- und Impfpolitik sind „konkrete Beispiele für diese Repression.“
Ertürk argumentiert, dass sich die Rolle der Medien von der Analyse von Konflikten zur „Legitimierung von Kriegen“ gewandelt hat. Insbesondere in Deutschland verfolgen öffentlich-rechtliche Sender wie ARD und ZDF in der Ukraine-Frage „eine Linie, die sich kaum von Regierungserklärungen unterscheidet.“ Waffenlieferungen werden als „moralische Verantwortung“ dargestellt, während der Tod tausender Kinder in Gaza nicht einmal als Tragödie bezeichnet wird. Dies unterstreicht die „Transformation der Medien in einen Mechanismus zur Herstellung von Konsens für den Krieg.“
Eine entscheidende Rolle in diesem Wandel spielen die „globalen Medienmonopole“ (Musk, Zuckerberg, Gates). Elon Musks Plattform X fördert „unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit neo-atlantische Narrative“, während sie „EU-kritische Inhalte unsichtbar macht.“ Zuckerbergs Meta hat im Gaza-Krieg „pro-palästinensische Inhalte algorithmisch unterdrückt.“ EU-Regulierungen wie der Digital Services Act (Gesetz über digitale Dienste) fungieren „unter dem Vorwand des Nutzersschutzes als Zensurmechanismus“, der Nachrichten außerhalb des Mainstreams filtert. Ertürk weist auf eine „gefährliche Parallele in der europäischen Politik“ hin: die „symbiotische Beziehung“ zwischen der „atlantischen Mitte“, die Washingtons Linie bedingungslos folgt, und dem „Aufstieg rechtsextremer Akteure wie der AfD, Le Pen und Meloni.“ Beide Seiten teilen „ähnliche autoritäre Reflexe“, wenn es um die „Kontrolle der Medien, die Unterdrückung kritischer Stimmen und die Unanfechtbarkeit der Sicherheitspolitik“ geht.
In diesem „Guter-Cop-böser-Cop-Spiel“ instrumentalisiert das System die extreme Rechte, um „echte Opposition zu diskreditieren.“ Indem die extreme Rechte die „richtigen Fragen“ (z. B. zur Ukraine-Politik) auf einer „rassistischen und populistischen Grundlage“ stellt, wird jede Form der Kritik „toxisch gemacht.“
„Kritisches Denken wird somit von zwei Seiten in die Zange genommen“, und der Gesellschaft wird eine „falsche Wahlmöglichkeit vorgegaukelt.“
Die schleichende Gefahr und die ersten Funken des Widerstands
Für Işın Ertürk liegt der entscheidende Unterschied darin, dass der Druck auf die Medien in der Türkei „offen und plump“ sei, während er in Europa „weitaus subtiler, indirekter und daher gefährlicher“ sei. Die Zensur erfolgt „verdeckt über Algorithmen“, die „Vergabe von Fördergeldern“ und „zivilgesellschaftlich getarnte Strukturen.“
Diese Entwicklung ist umso besorgniserregender vor dem Hintergrund der „massiven militärischen Aufrüstung Deutschlands“, für die bis 2029 bis zu „850 Milliarden Euro“ vorgesehen sind. Eine derartige Militarisierung ist ohne eine „tiefgreifende mentale Veränderung der Gesellschaft“ nicht nachhaltig. Die „Umwandlung von Medien, Kultur und Bildung in Propagandainstrumente“ ist ein wesentlicher Teil dieses Prozesses. Das Treffen in Berlin stellt einen der „ersten Risse in dieser liberalen Fassade Europas“ dar. In einer Zeit, in der die Wahrheit nicht mehr nur verborgen, sondern zum Feind erklärt wird, legen solche Zusammenkünfte den Grundstein, um „eine Stimme zu erheben und die Wahrheit zu verteidigen“ – ein Versuch, sich dagegen zu stemmen, dass Europa „leise auf seine mögliche dritte große Katastrophe zusteuert.“
Quelle: www.biryenicumhuriyet.com.tr