Kemal Yalçın
Unsere griechischen Nachbarn, die Familie Minoğlu, vertrauten am Tag ihrer Zwangsdeportation und Todesreise im September 1920 die Mitgift ihrer Töchter meinem Großvater Gacaroğlu Mehmet Kemal Yalçın an. Ich gab diese anvertraute Mitgift 1996 in Volos an ihre rechtmäßigen Besitzer zurück.
Mein Vater Ramazan Yalçın bewahrte das „Liebespfand“, das Sofiya 1920 gegeben hatte, 76 Jahre lang auf.
Diese Geschichte hörte ich mit neun Jahren von meinem Vater Ramazan Yalçın, während wir auf unserem Feld Mais säten.
Das friedliche Zusammenleben in Honaz
In Honaz, einem Bezirk von Denizli, wo ich geboren wurde, lebten bis 1920 etwa 1000 Türken und 1000 Griechen zusammen. Wer wollte, ging in die Kirche, wer wollte, in die Moschee. Sie kneteten ihren Teig mit dem Wasser derselben Quelle und bewässerten ihre Gärten mit dem Wasser derselben Brunnen. Der Garten meines Großvaters lag im griechischen Viertel. Die Nachbarn meiner Großeltern waren Griechen wie die Palaoğlus, Sabuncuoğlus und Minoğlus. Sie lebten wie Brüder zusammen, ohne Streit oder Auseinandersetzungen. Wenn meine Großmutter Ayşe irgendwohin gehen musste, vertraute sie meinen Vater der Frau von Minoğlu an. Wenn Minoğlus Frau irgendwohin musste, vertraute sie ihre Töchter Sofiya und Eleni meiner Großmutter an.
Der Krieg zerstört die Brüderlichkeit
Dann brach der Erste Weltkrieg aus. Das Osmanische Reich brach zusammen. Izmir und die Ägäis-Region wurden von griechischen Armeen besetzt. Die Brüderlichkeit zwischen Türken und Griechen wurde mit Blut befleckt.
Im September 1920 sammelten sie eines Nachts alle erwachsenen griechischen Männer in Honaz und brachten sie an einen unbekannten Ort. Die griechischen Frauen, Mädchen und Alten sperrten sie in einen Stall neben der Polizeistation. Auch die Nachbarn meiner Großeltern waren unter den Eingesperrten. Meine Großmutter war sehr traurig über das, was ihren Nachbarn widerfahren war. In jenen Tagen schickte sie jeden Morgen mit meinem Vater, der damals erst 12-13 Jahre alt war, Brot zu ihren Nachbarn in den Stall.
Der Abschied ohne Wiederkehr
Etwa einen Monat später hörte man eines Morgens Geschrei und Wehklagen. „Die Griechen gehen weg!“ sagten sie. Mein Vater erschrak und rannte nach Hause zu seiner Mutter. Kurz darauf kamen Minoğlus Frau mit einer seidenen Steppdecke im Arm und ihre Töchter Eleni und Sofiya, jede mit einer Tasche in der Hand, zum Haus meines Großvaters Gacaroğlu Mehmet Kemal Yalçın.
Minoğlus Frau sagte: „Aşa Aba, wir gehen weg. Es gibt ein Gehen ohne Wiederkommen, ein Kommen ohne Wiedersehen. Das sind die Mitgiften unserer Töchter, mögen sie bei euch als Anvertrautes bleiben. Wenn wir zurückkehren, gebt sie uns eines Tages zurück, wenn wir nicht zurückkehren können, gebt sie einem Armen, damit es unser gutes Werk sei! Wir haben viel Brot zusammen gegessen, verzeiht uns!“
Sie verziehen einander. Weinend trennten sie sich voneinander.
Mein Vater blickte Sofiya an, Sofiya blickte meinen Vater an! Sie sollten sich nie wiedersehen!
Das gehütete Versprechen
Mein Großvater und meine Großmutter bewahrten die anvertraute Mitgift bis zu ihrem Tod auf. „Man verrät kein Anvertrautes! Die Mitgift ist die Ehre der Mädchen! Sie ist unantastbar! Die Fortgegangenen kehren entweder nach 40 Tagen oder nach 40 Jahren zurück!“ sagten sie. Aber die Fortgegangenen kehrten nie zurück!
Als mein Großvater und meine Großmutter starben, blieb die anvertraute Mitgift bei meiner Mutter und meinem Vater.
1994 baten mich mein Vater Ramazan Yalçın und meine Mutter Ümmühan Yalçın, nach Griechenland zu reisen, die Besitzer der Mitgift zu suchen und zu finden und die anvertraute Mitgift zurückzugeben. Ich nahm ihre Bitte an.
Meine Mutter schlug mir vor, den Roman der anvertrauten Mitgift zu schreiben und sagte: „Wenn du schreiben willst, schreib diese Geschichte! Sie soll nicht vergessen werden!“
Das Liebespfand: 76 Jahre treuer Liebe
Mein Vater und Sofiya liebten sich seit ihrer Kindheit. Mein Vater hatte nie wieder ein so schönes Mädchen gesehen. Sofiya war zwei Jahre älter als mein Vater. Als sie nach Griechenland gehen sollten, gab Sofiya meinem Vater ein Taschentuch aus reiner Seide, das sie selbst genäht hatte, und sagte: „Ramazan, ich werde bis zu meinem Tod dir gehören.“ Mein Vater bewahrte dieses Liebespfand 76 Jahre lang auf.
Mein Vater sagte zu mir: „Mein Sohn Kemal, geh nach Griechenland, such und find die Minoğlus! Gib ihre Mitgift ihrer Familie zurück. Wenn Sofiya noch lebt, richte ihr meine Grüße aus. Das was deine nicht sieht – gib du Sofiya dieses Taschentuch. Sag ihr: ‚Mein Vater hat dich nie vergessen.‘ Sag ihr: ‚Du hast meinen Vater am Karaköprü-Wehr ins Wasser getaucht und wieder herausgezogen, mein Vater hat das nie vergessen.‘ Den Rest weiß sie!“
Die beschädigte, aber wertvolle Mitgift
Die Mitgift, die meinem Großvater Gacaroğlu Mehmet anvertraut worden war, befand sich in zwei Taschen. Außerdem war ihm eine seidene Steppdecke anvertraut worden.
Von dieser Mitgift hatten Motten das eine, Mäuse das andere zerfressen. Ich gab die 40 Stücke zurück, die noch intakt waren. Die meisten der Mitgiftstücke, die ich zurückgab, waren aus reiner Seide gewebt. Denn die Griechen von Honaz produzierten Seidenkokons und webten aus reiner Seide.
Die jahrelange Suche
1994 begann ich in Athen mit der Suche nach den Besitzern der anvertrauten Mitgift. In den Sommerferien 1994 reiste ich nach Athen und begann mit der Suche nach der Familie Minoğlu. Drei Wochen lang durchstreifte ich von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt die Regionen Athen, Thessaloniki, Kozani, Veria, Grebena, Katerini und Platomona. Ich konnte die Familie Minoğlu nicht finden. Aber ich fand Griechen, die aus Anatolien gekommen waren.
In den Sommerferien 1995 ging ich in die Türkei. Ich begann nach den Umsiedlern zu suchen, die 1924 im Bevölkerungsaustausch aus Griechenland in die Türkei gekommen waren. Ich durchreiste Anatolien von Ayvalık bis Rize. 1996 reiste ich wieder nach Griechenland. Nach langem Suchen fand ich die Familie Minoğlu in Volos. Nach 76 Jahren übergab ich die anvertraute Mitgift an Irini (Frieden), die Enkelin von Sofiyas Tochter.
Von der wahren Geschichte zum preisgekrönten Roman
Den Suchprozess nach den Besitzern der anvertrauten Mitgift verwandelte ich 1996-1997 in einen Roman. In meinem dokumentarischen Roman „Emanet Çeyiz“ (Die anvertraute Mitgift) gab ich die wahren Lebensgeschichten von 15 griechischen und 15 türkischen Umsiedlern wieder – von etwa hundert Menschen, denen ich während meiner Suche nach den Besitzern der Mitgift begegnete.
„Die anvertraute Mitgift“ wurde der erste Umsiedlungsroman, der nach den Erzählungen lebender Zeugen des Bevölkerungsaustauschs geschrieben wurde. Er eröffnete einen neuen Weg in der türkischen Literatur.
Der Roman „Die anvertraute Mitgift“ brachte den Stil des mikrohistorischen dokumentarischen Romans in die türkische Literatur. Er wurde zum Hauptwerk der Umsiedlungsliteratur. 2023, zum 100. Jahrestag des Bevölkerungsaustauschs, wurde der Romanpreis der Lausanner Umsiedler-Stiftung an „Die anvertraute Mitgift“ verliehen.
„Die anvertraute Mitgift“ wurde mein meistprämierter Roman:
– 1998 Abdi İpekçi-Sonderpreis für Freundschaft und Frieden
– 1999 Türkei-Griechenland-Preis für Freundschaft und Frieden
– 1998 Erfolgspreis für Romane des türkischen Kulturministeriums
Internationale Anerkennung und Übersetzungen
„Die anvertraute Mitgift“ wurde 2000 ins Griechische übersetzt und wurde der meistgelesene türkische Roman in Griechenland.
„Die anvertraute Mitgift“ wurde 2001 ins Deutsche übersetzt und veröffentlicht. 2021 wurde er im Iran ins Persische übersetzt.
„Die anvertraute Mitgift“ wurde bis heute etwa 100.000 Mal gelesen.
„Die anvertraute Mitgift“ ist die Stimme der Treue, der Liebe, der Freundschaft, der Brüderlichkeit, der Zuneigung, der Hoffnung und der Sehnsucht. Dieses Buch ist ein bunter Garten, ein trauriges und hoffnungsvolles Herz, entstanden aus den letzten Worten und letzten Wünschen von Menschen, die sagen: Ein Garten wird nicht mit einer einzigen Frucht gemacht.